Haben wir uns vielleicht geirrt?

Haben wir uns vielleicht geirrt?

Die wissenschaftlichen Beweise nehmen zu, nordische Staaten reagieren – waren wir vielleicht blauäugig und auf ebendiesem Auge blind?

Danny Frischknecht

Die frühen Warner

Wer mag sich nicht an den „Hype“ um den deutschen Neurowissenschafter Manfred Spitzer erinnern? Spitzer hat polarisiert, seine Aussagen haben auf der einen Seite besorgte Eltern bestärkt, auf der anderen Seite Medienpädagogen mobilisiert. Seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen wurden insbesondere methodische Unzulänglichkeiten bei den Studien vorgeworfen, seine Haltung als extrem und populistisch abgetan.
War das ein Fehler? Hätte man seine Aussagen – und jene anderer Wissenschaftler – ernster nehmen und kritischer an die Digitalisierung herangehen müssen?

Der digitale Schnellzug

Insbesondere in der Schweiz werden nach wie vor Millionen in die Digitalisierung der Schulen investiert, Staaten wie Island und Finnland haben besonders schnell vorwärts gemacht – sie erschrecken jetzt an den schlechten PISA-Ergebnissen und rudern zurück. In vielen weiteren Staaten versucht man darauf zu reagieren, dass die Nutzung digitaler Geräte und Dienste möglicherweise deutlich schädlicher ist als angenommen.
Auch in der Schweiz sollte man aufhorchen – die Lesekompetenz hat in den letzten Jahren weiter abgenommen. Darf man mit Rang 19 weltweit zufrieden sein? Darf das genügen für ein Land, das über eine extrem gute Infrastruktur verfügt? Mittlerweile gelten 25% der 15-Jährigen als leistungsschwach in ihren Leseleistungen.

Digitale Gerätchen sind nicht des Teufels

Selbstverständlich sind es nicht nur digitale Medien, welche negative Entwicklungen auf die Hirnentwicklung von Kindern haben – aber eben auch. Und übergewichtige Kinder, bei denen klare Bezüge zur intensiven Nutzung digitaler Medien und mangelnder Bewegung gegeben sind, kennt heute jede Lehrkraft. Das Interview mit dem deutschen Gynmasiallehrer Nils Björn Schulz in SWR1 darf einem zu denken geben – zumal Schulz kein Digitalisierungsgegner ist und sich für den Einsatz digitaler Medien einsetzt. Aber er zieht auch Schlüsse, zeigt Problematiken auf, die einer Reaktion bedürfen. Ähnlich auch der Schweizer Gynasiallehrer Carl Bossard, unter anderem Gründungsdirektor der Pädagogischen Hochschule Zug, nennt die Digitalisierung als eines der Probleme unserer Schulen. Nindestens ebenso spannend ist seine Stellungnahme zu den Strukturreformen der Schweizer Schule.

Zurück auf Anfang?

Natürlich nicht. Die Digitalisierung unserer Gesellschaft und damit auch der Schule ist nicht rückgängig zu machen. Aber vielleicht bräuchte es einige Kurskorrekturen?

  • Wir analysieren den Einsatz digitaler Medien und beurteilen deren Wirkung ohne rosa Brille oder Scheuklappen – und entscheiden dann, wie und wo ihr Einsatz sinnvoll und verantwortbar ist. Dabei scheuen wir auch nicht vor Einschränkungen und Verboten zurück, wo diese sinnvoll sind.
  • Wir setzen uns für eine Stärkung all dessen ein, was den negativen Folgen den Wind aus den Segeln nimmt. Lesen und Schreiben als Grundlage fast allen Lernens erhalten wieder mehr Platz und Wert – sie werden nicht auf sinnentleerte Lückentexte in überteuerten Lehrmitteln reduziert.
  • Gleichzeitig wird die Wirksamkeit der Schule gestärkt, indem Stundentafeln und Lehrpläne entrümpelt werden(zwei Fremdsprachen in der Primarschule…), notwendiges Können die Kompetenzorientierung zumindest ergänzt, die Rolle der Lehrperson als reine ModeratorIn unter die Lupe genommen wird.
  • Nicht zuletzt muss ein Pakt mit den Eltern geschlossen werden; sie werden intensivst informiert über die Folgen des ungefilterten Konsums digitaler Medien, insbesondere der „sozialen“ Plattformen. Gleichzeitig schaffen die Schulen Unterstützungsangebote für Eltern – vielleicht auch verpflichtende?

Das wichtigste Element bleibt aber; Schule und Bildung übernehmen Verantwortung für die gesunde Entwicklung unserer Kinder – körperlich und geistig – und stemmt sich kritisch gegen alles, was dem entgegenwirkt. Und das bedeutet durchaus auch, Stellung zu beziehen gegen die Macht der Unterhaltungsindustrie, der Hard- und Softwarehersteller.

Wieder blaue Augen?

Es ist wichtig, dass wir die (digitale) Entwicklung unserer Gesellschaft und Schule kritisch beurteilen und viel Energie in die Bekämpfung negativer Entwicklungen stecken.
Das muss schnell und intensiv geschehen, denn gerade jetzt steht jene Entwicklung vor der Türe, deren Einfluss auf die Bildung und das Lernen meiner Meinung nach massiv unterschätzt wird, die künstliche Intelligenz…
Schauen wir dafür, dass unser Blauäugigkeit nicht zu einem blauen Auge führt.

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